7.ÜBER MEDITATION ODER SO WAS IN DER ART, DAS DU VIELLEICHT MANCHMAL ÜBST

image Die Fruchtbarkeit unseres Lebens hängt weitgehend von unserer Fähigkeit ab, unsere eigenen Worte anzuzweifeln und den Wert unserer Arbeit infrage zu stellen. Wer seiner eigenen Selbsteinschätzung vollkommen vertraut, ist zur Unfruchtbarkeit verurteilt.«

Thomas Merton

MIT NEUNZEHN VERSUCHTE ICH ES zum ersten Mal mit dem, was ich für Meditation hielt. Ich war ein echter Crust-Punk*-Junge, der auf der Straße um Kleingeld bettelte und dem Meditation kaum hätte gleichgültiger sein können – wenn ich mich nicht verliebt hätte. Ich war hoffnungslos und bis über beide Ohren vernarrt in ein durchdringend nach Patschuli duftendes Hippie-Mädchen mit einer Vorliebe für Trommelkreise. Wir arbeiteten zusammen in einer Saftbar, wo ich zufällig mithörte, als sie einer Kollegin sagte, sie würde gern meditieren, fände »aber einfach nicht die Zeit dafür«. (Kommt dir das bekannt vor?) Ich überlegte, dass sie mich vielleicht irgendwann fragen würde, ob ich es jemals damit versucht hätte, und wusste, dass ich richtig bei ihr punkten konnte, wenn ich die Frage bejahte. Also tat ich das, was – so glaubte ich – bestimmt alle versierten Meditierenden taten: Ich rollte mir einen riesigen Joint und rauchte, bis ich kaum noch meinen Nachnamen wusste. Dann saß ich im Schneidersitz schmerzhaft verkrampft im Innenhof und visualisierte Wörter wie »Frieden«, »Liebe« und »Licht«, die in großen psychedelischen 70er-Jahre-Bubble-Buchstaben auf mich zukamen. Nach etwa neunzig Sekunden dachte ich, ich hätte nun genug erforscht, um mit Autorität über diese Praxis sprechen zu können, und ließ es gut sein. Und es funktionierte! Ein paar Tage später fragte mich mein Schwarm aus der Saftbar, ob ich etwas über Meditation wüsste, und ich konnte mit einer echten Erfahrung aufwarten, von der ich ihr erzählte. »Es fühlt sich so gut an, so tief zu gehen«, berichtete ich. Es war weniger eine Lüge als völliger Humbug. Aber, hey, was tut man nicht alles für die Liebe.

JENSEITS DES NEBELS DER VERMUTUNG

OKAY, JETZT KOMMT EHER ETWAS FIKTIONALES. Bis auf den Teil, in dem etwas beschrieben wird, was wir alle tun, ich selbst eingeschlossen.

Es war einmal ein angehender Schüler, der einen Zen-Meister bat, ihn Meditation zu lehren. Der Meister willigte ein, den Schüler zu unterrichten, verlangte aber, dass dieser ihm zuerst alles, was er über Meditation wusste, erzählte. Daraufhin erging sich der Schüler in einem langen Wortschwall über all die fantastischen Dinge, die er in spirituellen Büchern gelesen hatte, über Spekulationen, was Meditation für ihn bewirken würde, und all die coolen Dinge, die seine Freunde darüber sagten. Während der Schüler redete und redete, reichte ihm der Meister eine Tasse und begann, Tee einzugießen. Die Tasse des Schülers füllte sich, doch der Meister hörte nicht auf. Schließlich lief der Tee über und ergoss sich überallhin. Der Schüler schrie dem Meister zu: »Es ist doch voll! Warum gießt du immer weiter ein?« Der Meister lächelte: »Ach? Du meinst also, ich soll nicht versuchen, noch mehr in eine Tasse zu füllen, die schon voll ist?«

Wir können nur wenig lernen, wenn wir etwas Neues angehen und dabei sicher sind, wir hätten es schon »kapiert«. Es bleibt kein Raum für frische, lebensverändernde Einsichten, wenn wir bereits voller vorgefasster Meinungen sind. Die allegorische »Tasse« des Schülers war bereits so voll von Annahmen über Meditation, dass der Meister sah: Weitere Anleitungen würden dem Schüler keinen echten Nutzen bringen. Das bedeutet: Wenn wir uns »leer machen« von dem, was unserer Vorstellung nach Meditation ist und wie sie verlaufen sollte, schaffen wir Platz für die wirkliche Praxis.

Eine volle Tasse ist jedoch nicht die einzige geistige Haltung, auf die hin wir uns selbst sinnvollerweise prüfen sollten, wenn wir uns um die innere Revolution bemühen, die Meditation für uns bereithält. Wir könnten auch eine »schmutzige« Tasse haben, was bedeutet, dass unsere Absichten nicht besonders rein sind. Immerhin gibt es diejenigen unter uns, die Meditation nur ausprobieren, um ihren Schwarm am Arbeitsplatz zu beeindrucken. Es gibt auch ein subtileres Spiel, das wir manchmal spielen. Während meiner Ausbildung zum Therapeuten warnte mich eine Mentorin, ich solle nach Klient*innen Ausschau halten, die nur zur Therapie kommen, um eine Geschichte über sich selbst zu untermauern, nach dem Motto: »Ich kriege all mein Zeugs auf die Reihe; ich war heute bei der Therapie.« Anschließend würden sie aber die Arbeit zwischen den Sitzungen nicht tun und wollten nicht aufrichtig eine Veränderung herbeiführen. Sie warnte mich nicht deswegen davor, weil sie diese Klient*innen verurteilte, sondern weil ich einer solchen Person einen sehr schlechten Dienst erweisen würde, wenn ich sie nicht darauf aufmerksam machte. Es ist tatsächlich möglich, ein Leben lang in einer solchen Selbsttäuschung zu verharren und es nie zu erkennen. Wir alle sind anfällig dafür. Es ist eine subtile Form des Selbsthasses, und es ist herzzerreißend.

Unsere Tasse könnte auch ein großes Loch haben, was bedeutet, dass wir die potenzielle Tiefe der Praxis abtun (vielleicht, weil wir beim Meditieren völlig bekifft sind) und die Anweisungen und bereichernden Einsichten, die zur Praxis gehören, »zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus« gehen.

MEDITATION SCHEINT ZU JENEN DINGEN zu gehören, bei denen Menschen nach fünf Monaten meinen, recht gut den Durchblick zu haben, aber nach fünfzehn Jahren zu der Erkenntnis gelangen, dass sie fast nichts darüber wissen. Das meiste von dem, was wir heute »Meditation« nennen, besteht aus weitreichenden und subtilen Praktiken mit vielen Schichten, die fast niemand vollständig versteht. Was auch immer unsere Praxis ist – stilles Sitzen, Mantras, Chakrenarbeit, Reiki oder Pflanzenheilkunde –, wenn wir sie nicht ehrlich, ernsthaft und mit der Bereitschaft, uns bescheiden zu hinterfragen, angehen, haben wir es wahrscheinlich mit einer der oben erwähnten drei Tassen zu tun.

Die vierte problematische Tasse wäre eine, die keinen Deckel hat und sich von jeder x-beliebigen Person mit Tee füllen lässt, ohne sie infrage zu stellen. Eine gesunde (aber nicht übertriebene) Skepsis ist auf dem spirituellen Marktplatz notwendig, denn auf diesem Feld gibt es seit Jahrtausenden mehr als genug Gauner und Quacksalber. Die wahrscheinlich häufigste Methode, mit der wir ausgetrickst werden, ist die, auf das zu vertrauen, was sich »gut« oder »richtig anfühlt«. Ich plädiere zwar auf jeden Fall dafür, dass Menschen ihre Intuition entwickeln und darauf vertrauen, aber unsere Fähigkeit, bequeme Halbwahrheiten zu glauben, darf dabei nicht ignoriert werden. Denn wenn wir wirklich spüren, dass solche Praktiken uns an den Rand einer lebensverändernden Erkenntnis bringen können, warum begnügen wir uns dann damit, alles andere zu sein, nur nicht gründlich? Weißt du, was sich für mich einmal so gut und so spirituell anfühlte? Heroin. Weißt du, was sich unerträglich schlimm und falsch anfühlte? Clean zu werden.

Vergessen wir nie: Das, was wir schwierig finden, was uns herausfordert, sind oft die tiefsten Wahrheiten. Mögen wir Einsicht entwickeln, um den Unterschied zwischen bequemen Halbwahrheiten und echten Wahrheiten zu erkennen. Mögen wir uns bei dieser Praxis nach unserem Bauchgefühl richten, aber unser Gehirn doch dicht dahinter folgen lassen.

WENN ETWAS HEILEN KANN, KANN ES AUCH SCHADEN: DIE GEFAHREN DER MEDITATION

ICH HABE EINMAL DEN SPRUCH GEHÖRT: »Wenn es heilen kann, kann es auch schaden.« Schließlich kommen täglich Leute aus dem Yogaunterricht und gehen von da direkt ins Krankenhaus. Ich hatte einmal einen Krampfanfall, als ich intensiv Pranayama* übte, obwohl ich seit mehreren Tagen eine Master-Cleanse-Entgiftungsdiät (auch Zitronensaft-Diät genannt) machte. Meine von Hybris getriebene Logik war diese: »Heyyy, es ist eine Heilpraxis – was kann da schon schiefgehen?« Heilpraktiken sind jedoch wie Feuer. Sie können eine willkommene Wärme in ein kaltes Zimmer bringen, sie können aber auch das Haus niederbrennen. Ihre Wirkkraft wird durch die Energie bestimmt, die wir in sie einbringen. Ein Beispiel dafür ist die Tragödie von MEGAN VOGT, einer Frau, die während eines zehntägigen Schweige-Retreats einen psychotischen Zusammenbruch erlitt. Niemand im Meditationszentrum war in der Lage, damit umzugehen und ihr zu helfen, weder während des Retreats noch danach, und Wochen später beging sie Selbstmord.5

MEGANS schreckliche Geschichte ist zwar ein Sonderfall, aber sie sollte uns zumindest als warnendes Beispiel dienen: Meditationspraktiken können stark in unseren Geist und Körper eingreifen und mit einem Trauma oder einer beginnenden Psychose interagieren; und zwar auf eine Art und Weise, die wir kennen sollten.6 Hat die Meditation MEGANS psychotischen Zusammenbruch verursacht? Wahrscheinlich nicht. Hat die Meditation die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass es zu ihrem Zusammenbruch kommen konnte? Höchstwahrscheinlich.

Selbst wenn du kaum traumatische Erfahrungen gemacht und derzeit nicht mit einer psychischen Krankheit zu tun hast, besteht eine unmittelbare Gefahr, die wir alle bei jeder kontemplativen oder heilenden Praxis im Auge behalten sollten: Eine solche Praxis kann dazu führen, subtile Formen der psychischen Spaltung und sogar des Selbsthasses zu verstärken. Es kann vorkommen, dass wir verschiedene defensive Anteile von uns nutzen, um uns vor der Verletzlichkeit abzuschirmen, die mit der Praxis einhergeht. Unsere perfektionistischen Teile kommen vielleicht hinzu und verstärken eine gewohnheitsmäßige Strenge. Unsere abgespaltenen Anteile könnten sich bemerkbar machen und bewirken, dass wir ständig gedanklich abdriften. Unser innerer Kritiker könnte verrücktspielen und uns sagen, dass wir alles falsch machen und überhaupt nie etwas richtig. Die Teile von uns, die sich nach einer Patentlösung, nach irgendeiner Rettung sehnen, könnten uns davon überzeugen, dass wir endlich das lange gesuchte Wundermittel gefunden hätten und nun all das nur noch mit echter Hingabe zu praktizieren bräuchten, damit wir endlich geheilt würden.

Und die vielleicht am weitesten verbreitete Gefahr von allen: dass wir uns auf eine Mission begeben, um unser »Ego« loszuwerden. Wenn wir von unserem Ego als etwas Schlechtes sprechen, ist das nichts weiter als spirituell verbrämter Selbsthass. In den östlichen Traditionen ist das, was als Ego bezeichnet wird, die Sammelbezeichnung für defensive Teile unserer selbst, die eine Maske der Ichbezogenheit, Vermeidung und Kleinlichkeit tragen, um dem Gefühl, verletzlich zu sein, auszuweichen. Bedenke aber: Die Bedeutung des Begriffs »defensiver Mechanismus« – Verteidigungsmechanismus – ist »etwas in mir, das dafür sorgen will, dass ich in Sicherheit bin«. Daher ist das »große, böse Ego«, das in den meisten, wenn nicht in allen spirituellen Traditionen verunglimpft wird, in Wirklichkeit nur eine Ansammlung unserer Verteidiger, die das tun, was uns ihrer Überzeugung nach hilft. Es sind Teile von uns, die es gut meinen, egal wie sie oberflächlich betrachtet wirken. Ja, es sind Teile von uns, die sich weiterentwickeln und verändern müssen, aber Hass und Verurteilung sind selten hilfreich, um zu wachsen. Das vermag nur die Liebe.

Mehr noch: Solche inneren Anteile können nirgendwohin gehen. Du kannst dir nicht einen Teil deiner Psyche abhacken – und zumindest einige Skandale, an denen Oberhäupter verschiedener spiritueller Gemeinschaften beteiligt sind, stehen in direktem Zusammenhang mit der Illusion, dies sei möglich. Das sogenannte Ego ist ein Mitbewohner, den wir nicht loswerden können. Darum dürfte es sinnvoll sein, freundliche, verlässliche Kommunikationskanäle mit ihm aufzubauen.

In einem gewissen Licht betrachtet ist es fantastisch, diese inneren dynamischen Kräfte wahrzunehmen. Sie sind Beispiele dafür, dass die Praxis wie ein schöner, sauberer Spiegel wirkt, in dem wir das Ergebnis unserer tiefen Konditionierung erkennen. Wenn wir klarer sehen, können wir innehalten, uns aus der Verschmelzung lösen und neugierig auf das Drama werden, das sich vor unseren geschlossenen Augen entfaltet. Dadurch, dass wir etwas Tageslicht zwischen uns und unsere geistig-emotionale Erfahrung treten lassen, eröffnet sich uns die Gelegenheit, mit all diesen Teilen Freundschaft zu schließen und unser Leben von innen heraus zu harmonisieren. Falsche Identitäten oder solche, die schlicht und einfach nicht mehr nützlich sind, verschwinden dann ganz von selbst. Das Problem ist, dass wir dieses bewusste Zurücktreten so oft nicht tun; wir bleiben verschmolzen mit den Teilen von uns, die versuchen »zu meditieren«, obwohl Meditation zwangsläufig ein Loslösen ist.

GRÜNES LICHT AUF DER AUTOBAHN DER ERLEUCHTUNG

NACHDEM WIR ALL DIESE KRITIKPUNKTE an »schiefgelaufener Meditation« erläutert haben, können wir jetzt innehalten und die Verschmelzung auflösen. Denn so ernst ist es nun auch wieder nicht. In gewisser Hinsicht ist es sogar urkomisch, was wir uns da selbst antun, all diese unnötigen Kämpfe, die wir uns im Namen des Wohlbefindens aufbürden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Meditation an sich urkomisch. Wenn du das nächste Mal in einer Gruppe praktizierst, schau dich um. Ja, es ist schön zu sehen, wie andere sich ernsthaft bemühen, frei zu werden. Doch es ist auch absurd, dass wir so hart arbeiten, wo wir doch eigentlich nur versuchen, unsere Masken fallen zu lassen und zu dem zu werden, was wir wirklich sind. Wenn uns durch diese Praxis die Leichtigkeit abhandenkommt, dann stimmt etwas nicht.

Meine erste Lehrerin, AMMA, erzählte einmal die Geschichte von einem Mann, der zu ihr kam, nachdem er in der Meditation wunderbare, aber auch merkwürdige Erfahrungen gemacht hatte. Er sah verschiedene grüne Lichter aufleuchten, während er sein Mantra rezitierte, und fragte sich, was sie bedeuteten. Betrat er andere Dimensionen? Erreichte er ein neues, fortgeschrittenes Stadium der Praxis? War er der Erleuchtung nahe?! Was bedeutete das?! »Es bedeutet, dass du eine Zeit lang nicht Auto fahren solltest«, sagte AMMA zu ihm. Der Mann war verblüfft. »Eines deiner grünen Blinklichter leuchtet vielleicht auf, wenn du an eine rote Ampel kommst. Ich habe Angst, dass du dann auf die Kreuzung fährst und jemanden verletzt!«

AMMA stellte auf ihre typisch kindliche Art die Wahrheit heraus, dass es auf solche Erfahrungen – bis hin zu echten mystischen Erfahrungen – in der Meditation nicht ankommt. Vielmehr geht es darum, dass wir uns ernsthaft bemühen und unsere Neugierde auf das bewahren, was uns in der Praxis begegnet, was auch immer es sei. Es geht darum, die natürlichen Eigenschaften des Herzens – Liebe, Mitgefühl, Wertschätzung und Resilienz – zu enthüllen und diese Qualitäten auf die neurotischen, gequälten, konfliktbehafteten Teile unserer inneren Familie auszudehnen. Es geht darum, was sich im Lauf der Zeit in unserem täglichen Leben tut, und nicht so sehr um das, was bei unseren jeweiligen Meditationssitzungen auf dem Kissen stattfindet. Die buddhistische Nonne TENZIN PALMO hat einmal bemerkt: Ob wir in unserer Meditation Fortschritte machen, können uns am besten die Menschen sagen, die zu unserer Familie gehören (zur biologischen oder zur Wahlfamilie). Glauben diejenigen, mit denen das Zusammenleben mitunter schwierig ist, dass wir freundlicher werden? Das ist die Schlüsselfrage.

ZUM SCHLUSS DIESES KAPITELS über Meditation möchte ich dich noch etwas fragen: Wann hast du das letzte Mal bewusst geatmet? Weißt du überhaupt, wie man richtig durchatmet und einen vollen, befriedigenden Atemzug macht? Und nun, da du tief einatmest, weil du dich auf frischer Tat ertappt fühlst – du schlimmer Flachatmer, du! – ergibt es für mich Sinn zu fragen: Was tun wir überhaupt, wenn wir versuchen, »dem Atem zu folgen«, wenn wir eigentlich gar nicht wissen, wie man atmet? Wie können wir erwarten, nach den Sternen zu greifen, wenn wir nicht wissen, wie wir auf der Erde gehen sollen? Selbst wenn jemandes Praxis Mantrarezitation oder Reiki oder etwas Ähnliches ist, bin ich mir nicht sicher, ob überhaupt irgendeine Praxis besonders wirken kann, wenn die Person, die sie anwendet, durchschnittlich nur alle drei Tage (oder Jahre) einmal tief durchatmet oder ihr Körper durch Überarbeitung, Trauma und einen ungünstigen Lebensstil voller Anspannung ist.

Und keine Praxis wird unser Leben verändern, wenn wir noch nicht einmal in der Lage sind, es mit uns selbst auszuhalten, so wie wir sind, ohne etwas verbessern zu wollen. Ohne die Ausgangsbasis einer solchen Selbstakzeptanz – ich bin sogar so dreist, Selbstliebe zu sagen – läuft jede Praxis Gefahr, zu einem Wettbewerb zwischen unserem Teil des »guten Meditierenden« und dem des »schlechten Ichs« zu werden. Wir sind nicht hier, um »unser Ego zu töten« oder irgendeinen Teil von uns loszuwerden. Wenn wir verurteilen – den denkenden Geist schmähen, unsere Selbstbezogenheit hassen, irgendeinen Teil von uns mit allen möglichen Beschuldigungen überziehen –, dann ist das nichts anderes als glatter Selbstmissbrauch.

Wenn du also die folgende Übung »Sich erden: der Atemkörper« machst, lade ich dich ein, alles, was du über Achtsamkeit, Transzendentale Meditation, Kristalle und Chakren gehört hast, einmal außer Acht zu lassen. Einschließlich der Vorstellung, dass deine Gedanken hier nicht erlaubt sind. Oder dass Ablenkungen unvereinbar damit sind, dass du hier allein mit dir selbst herumsitzt. Lass uns einfach einen Schritt beiseitetreten, mehr Distanz gewinnen zu all den tollen Sachen, die wir zu kennen glauben, und herausfinden, wie wir das Grundlegendste, fundamental Menschlichste überhaupt genießen können: einen richtigen Atemzug.

Ich, dein Meditationslehrer, gebe dir offiziell die Erlaubnis, nicht zu meditieren, deinen Gedanken und Gefühlen einfach freien Lauf zu lassen wie wilden Pferden – was sie ja auch sind –, und alles, was in deiner Umgebung geschieht, einfach weiterlaufen zu lassen. Gib auf. Gib das Selbstverbesserungsprojekt auf. Du bist nicht reparaturbedürftig. Stattdessen möchte ich dir vorschlagen, dein Nervensystem auf zellulärer Ebene zu nähren und einfach neugierig darauf zu sein, wohin dich das stattdessen führt.

TEIL 2 | ÜBUNGEN

Sich erden: der Atemkörper | ÜBUNG 1

IN DIESER ÜBUNG LERNST DU DAS NÜTZLICHSTE, was ein Mensch für seinen Körper überhaupt tun kann.

Zuerst musst du, wenn du einmal voll einatmen willst, deinen Körper in eine Position bringen, in der dein Atemfluss nicht behindert wird. Das erreichst du entweder, indem du aufrecht sitzt oder indem du dich auf den Rücken legst. Wenn du dich hinlegst, schieb am besten etwas unter deine Knie, zum Beispiel ein paar Kissen, damit dein Rücken keinen Schaden nimmt. Aber bitte leg dir kein Kissen unter dem Kopf. Das würde deinen Nacken in eine Fehlhaltung bringen und den Luftstrom behindern. Versuch es stattdessen mit einem Handtuch, das so gefaltet ist, dass dein Kopf nur etwa zwei bis drei Zentimeter erhöht liegt. Du kannst diese Übung zwar zur Not auch im Bett machen, aber wenn du dich auf einen Teppich oder eine Yogamatte auf dem Boden legst, ist das viel besser für deine skelettale Ausrichtung. Falls du aufrecht sitzt, versuch dabei weder starr noch schlaff zu sein.

Welche Haltung auch immer du einnimmst, leg fest, wie lange du üben willst (zehn Minuten sind großartig, wenn dir solche Übungen neu sind; zwanzig Minuten sind toll, wenn es nicht dein erstes Mal ist). Stell einen Timer auf deinem Smartphone oder einem anderen Gerät ein. Verpflichte dich dabeizubleiben, bis der Timer sich meldet. Wenn du diese eine Regel diszipliniert einhältst, wird sie dir langfristig sehr gute Dienste leisten.

Beginne damit, dass du spürst, wie es ist, in deinem Körper zu sein. Spüre, dass es ein atmender Körper ist. Atme nun tief in den unteren Bauch hinein. Vielleicht ist es am einfachsten, tief einzuatmen, wenn du sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen durch den Mund atmest, zumindest am Anfang. Atme in den untersten Teil des Bauches, unterhalb des Nabels, der im chinesischen System Xia Dantian genannt wird. Atme ein und spüre, wie sich der Bauch in alle Richtungen vor dir ausdehnt. Atme aus und spüre einfach, wie der Bauch zusammensinkt. Das, was bewirkt, dass dein Bauch sich so ausdehnt, ist dein Zwerchfell – ein kuppelförmiger Muskel, der direkt unterhalb der unteren Spitze deines Brustbeins ansetzt. Du kannst dir vorstellen, wie es sich beim Einatmen nach unten hin verflacht und beim Ausatmen wieder zu seiner Kuppelform zurückkehrt.

Versuch, so vollständig wie möglich ein- und auszuatmen, aber geh bitte nicht zu nachdrücklich vor. Du tust das, um dich zu nähren und deinen Körper wach und munter zu machen; das sollte sich in deiner Einstellung widerspiegeln. Atme weiter. Das mag sich zunächst ein bisschen wie Arbeit anfühlen, und du könntest währenddessen in Versuchung kommen auszusteigen, aber geh einfach darüber hinweg und mach weiter. Am Ende wird dies eine erwünschte Wirkung hervorrufen, eine Art natürliches Hochgefühl, also lass dich einfach von dieser wohltuenden Wirkung zum Weitermachen motivieren. Wenn du spürst, dass dein Bauch etwas lockerer und weicher wird, lass deine Atemzüge tiefer, langsamer und länger werden. Finde heraus, wie ruhig du den Atem werden lassen kannst – aber auch hier wäre Perfektionismus fehl am Platz. Kein Druck. Nur ein Körper, der tief ein- und ausatmet, in den Unterbauch hinein.

Spüre, wie beim Einatmen der obere Teil der Hüfte ein wenig nach vorne rollt und dir dabei hilft, einen vollen Atemzug zu nehmen. Wenn du ausatmest, gleitet die Hüfte ein bisschen nach hinten und hilft beim Ausatmen. Du kannst dabei mitgehen und die Hüfte etwas deutlicher vor- und zurückrollen lassen, um dies zu vertiefen. Atme weiter.

ZUGEGEBEN: ATMEN UND DEN BAUCH ausdehnen kann für viele von uns psychisch unangenehm sein, besonders für Frauen, die die Botschaften unserer Kultur, welche Form ein Bauch haben sollte, verinnerlicht haben. Vielleicht spricht dich dann dies an: Betrachte das In-den-Bauch-hinein-Atmen doch einmal als einen riesigen mitfühlenden, sich selbst bejahenden, sich selbst liebenden, rebellisch erhobenen Mittelfinger, den du all den entmenschlichenden Konditionierungen zeigst. Bei dieser Übung lieben wir einen dicken Bauch. Ein dicker, voller, runder Neunter-Monat-Bauch sollte im Rahmen dieser Praxis gefeiert werden. Wenn du dich deswegen schämst, sei bitte freundlich zu dem beschämten Teil deiner selbst. Sag ihm, dass es in Ordnung und sicher ist, diese Übung zu machen. Du kannst dir die lächerlichen Standards unserer Kultur sogar als eine riesige Hand vorstellen, die dich fest gepackt hat und dir die Luft abdrückt. Mit jedem Atemzug stemmst du die Finger dieser Hand um dich herum von dir ab, einen nach dem anderen, ganz allmählich.

Sobald du das Gefühl hast, dass du gleichmäßig gut und tief in den Bauch hineinatmest, lass allmählich zu, dass der Atem weiter nach oben in die Brust hineinströmt. Der Bauch füllt sich und dehnt sich in alle Richtungen aus – nach vorne, zu den Seiten, und du kannst dir sogar vorstellen, dass sich um den Rücken herum ein bisschen Raum füllt –, dann bewegt sich der Atem nach oben in den Brustkorb und bewirkt, dass sich die Rippen nach links und rechts ausdehnen. Beim Ausdehnen des Brustkorbs spürst du, dass sich die Rippen wie ein Akkordeon auseinanderspreizen. Beim Ausatmen lässt du den Brustkorb einfach in sich zusammensinken, ebenso den Bauch. Anders ausgedrückt: Beim Einatmen gehen wir von unten nach oben vor; beim Ausatmen von oben nach unten; und wir achten fortwährend darauf, nicht starr oder angespannt zu sein

Langsam, lang, tief, voll, leicht und still.

IRGENDWANN SOLLTE SICH DAS NÄHREND und befriedigend anfühlen. Du bringst neues Leben in deine Zellen – klopfst gewissermaßen Rost von den Rohren. Du entgiftest deine Organe und dehnst deine Lunge. Du versorgst dein Gehirn mit gutem Treibstoff. Du baust auch Muskeln auf. Es gibt drei Hauptmuskelgruppen, die an der Atmung beteiligt sind, und aufgrund unserer allgegenwärtigen Neigung, »das Atmen zu vergessen«, verkümmern sie. Wenn du diese Muskeln wieder aufbaust, ergibt es sich ganz natürlich, dass du im Lauf des Tages insgesamt tiefer atmest. Du denkst dann auch häufiger daran, bewusst zu atmen. Du kannst sogar an den Punkt gelangen, dass schon ein einziger bewusster Atemzug genügt, um dich wieder mit deiner Innenwelt zu verbinden und dir deine tieferen Absichten in Erinnerung zu rufen.

Genieße diesen einfachen Vorgang so lange, bis dein Timer abgelaufen ist.

ÜBUNG 2 | Innere Ressourcen heranziehen

DIE FOLGENDE ÜBUNG IST eine Visualisierungspraxis, die dich mit deinen inneren Ressourcen in Kontakt bringen soll. Manchmal, wenn wir scheinbar in einer Sackgasse gelandet sind, stimmt das gar nicht – eigentlich brauchen wir, wie die BEATLES es ausdrücken, nur »ein bisschen Hilfe von unseren Freunden« (»a little help from our friends«). Diese Übung nutzt unser Vorstellungsvermögen als Eingang zum Unterbewusstsein – wo wir genau diese Hilfe finden können. Ich würde diese Übung als eine Art »Nachbarzone« der Teile-Arbeit betrachten, als eine weitere Möglichkeit, zu demselben inneren Territorium zu gelangen. Auch wenn es dir schwerfiel, zur Energie der Neugierde und der Fürsorge für deine inneren Teile zu finden, kann dir diese Übung unter Umständen sehr dabei helfen, diese Neugierde und Fürsorge in dir zu erkennen. Setz dich bequem hin. Atme ein paarmal tief ein und aus und komme bei dir selbst an. Denk dann an eine schwierige Situation – entweder an etwas, das dich momentan beschäftigt, oder an etwas, mit dem du dich in der Zukunft auseinandersetzen musst. Es kann groß oder klein sein, es kann den Arbeitsplatz oder dein Zuhause, eine Freundin, ein Familienmitglied oder die finanzielle Situation betreffen – was auch immer.

Sobald du die Situation gefunden hast, mit der du arbeiten möchtest, stell dir vor, dass du genau jetzt damit konfrontiert wirst. Spiel den Film darüber vor deinem geistigen Auge ab. Sieh, wie sich die Situation entwickelt, nimm wahr, wie du dich in dieser Situation fühlst, was dein Körper empfindet und was du tendenziell gern tun würdest. Achte auch darauf, wer noch anwesend ist, wie sich die Anwesenheit dieser Person anfühlt, wie ihre Stimme klingt; stell dir so viele Aspekte der Situation wie möglich vor.

PLÖTZLICH STEHT DIE ZEIT STILL und alles kommt zu einem Halt. Aus dem Nichts materialisiert sich allmählich eine leuchtende Wesenheit oder Person heraus. Du weißt, dass diese Wesenheit oder Person sehr weise ist und über große Einsicht verfügt, dass du sie bewunderst und dass sie liebevoll, mutig und stark ist.

Es könnte der Buddha, MAYA ANGELOU, DAVID BOWIE, deine Großmutter oder jemand anderes sein. Beobachte, wie sich das Wesen langsam vor dir manifestiert. Wer ist es?

Wie sieht es aus? Betrachte sein Gesicht, die Augen, das Lächeln; fühle seine Gegenwart, seinen warmen Blick. Erzähle dem Wesen, während du es ansiehst, von der Situation, in der du dich befindest, und frag es, ob es dir helfen könnte. »Natürlich«, sagt es. »Nichts lieber als das.« Das leuchtende Wesen sagt: »Hier, ich zeige dir, wie ich damit umgehen würde«, und zu deiner Überraschung tritt es direkt in deinen Körper ein und übernimmt das Kommando. Du bist zwar immer noch da, aber es ist, als säßest du auf dem Rücksitz und das Wesen hätte das Lenkrad übernommen. Wie fühlt es sich an, es in deinem Körper zu haben? Fällt dir auf, dass sich deine Ausstrahlung, dein Gesichtsausdruck, sogar der Ton deiner Stimme verändert? Wenn ja, wie?

Die Zeit läuft wieder weiter. Du beobachtest, wie das leuchtende Wesen mit der Situation umgeht, sich um alle Angelegenheiten kümmert und mit allen Beteiligten kommuniziert. Wie ist das? Was sagt es? Was tut es? Wie verhält es sich und wie spricht es? Welche emotionalen Eigenschaften lässt es erkennen? Welche Art von Empathie zeigt es? Und wie kommuniziert es seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen? Wie reagieren andere auf die Wesenheit, auf die Person? Nimm dir Zeit und beobachte, wie sie alles mit der ihr eigenen Anmut und Intelligenz handhabt.

Wenn deine Angelegenheiten ausreichend geregelt sind (oder zumindest so weit, wie es heute möglich war), tritt das Wesen wieder aus deinem Körper aus. Du bist ihm sehr dankbar. Dann sagt es dir, dass es einige spezielle Ratschläge für dich hat. Es beugt sich vor, bis sein Gesicht dicht an deinem Ohr ist, und flüstert dir etwas Weises ins Ohr. Was sagt es?

Schließlich streckt es die Hände aus, und du siehst, dass es einen hell schimmernden Kasten aus Gold und Silber hält. Es möchte, so sagt es dir, dass du nie vergisst, was heute hier klar geworden ist. Vor allem will es nicht, dass du deine eigene Stärke und Weisheit vergisst. In dem Kasten ist ein Geschenk für dich, das dir hilft, dich an alles zu erinnern. Es ist ein starkes, bedeutungsvolles Symbol, das nur für dich ausgesucht worden ist. Du streckst die Hand aus und öffnest langsam den Deckel des Kastens, um herauszufinden, was sich darin befindet. Was ist es?

Du nimmst den symbolischen Gegenstand aus dem Kasten und hältst ihn einen Moment liebevoll. Du wechselst einige dankbare Abschiedsworte mit dem leuchtenden Wesen. Und während du tief einatmest, löst es sich wieder in Luft auf, die gesamte Szene verschwindet mit ihm, und du kehrst sanft wieder aus der Übung in die Gegenwart zurück.

NIMM DIR NACH DER ÜBUNG ETWAS ZEIT, alles aufzuschreiben, was dir davon in Erinnerung geblieben ist, alles, was du gesehen, gefühlt und verstanden hast. Visualisierungen, die Bilder und Erfahrungen aus tieferen Schichten unseres Bewusstseins zutage fördern, sind Träumen sehr ähnlich. Wenn wir uns auf sie einlassen, sie aufschreiben und vielleicht sogar über sie sprechen, bleiben sie uns auf eine bedeutungsvolle Weise erhalten; lassen wir uns dagegen nicht auf sie ein und machen einfach weiter, dann verflüchtigen sie sich und es ist, als wären sie nie da gewesen. Es ist eine fantastische Idee, wenn du dir etwas zulegst, das dem Geschenk ähnelt, das du von dem Wesen erhalten hast. Das muss nicht der Gegenstand selbst sein. Es könnte auch ein Bild davon sein – sogar eines, das du selbst davon zeichnest. Bewahre den Gegenstand irgendwo auf oder bring ihn irgendwo an, wo du ihn siehst und er dich an die Fülle deiner Ressourcen und Ideen erinnern kann, vielleicht an deinem Spiegel oder auf dem Nachttisch.

Es mag den Anschein haben, als hättest du dir all das eingebildet, aber in gewisser Weise ist genau das der Punkt: Alles, was du dir an dem leuchtenden Wesen vorgestellt hast, ist bereits in dir. Sonst hättest du es dir nicht vorstellen können.

Das Angst-Unterbrechungs-Toolkit | ÜBUNG 3

HIER EIN BISSCHEN AUTOAUFKLEBER-WEISHEIT: »Wenn du keine Angst hast, hast du nicht aufgepasst.« Angst ist eine der vernünftigsten, angemessensten Reaktionen auf den Zustand der Welt; gleichzeitig brauchen wir es, dass du mit beiden Beinen auf dem Boden stehst, wenn wir diesen Zustand ändern wollen.

Ich habe mich mit NICK WERBER zusammengesetzt, einem aufstrebenden Coach in Brooklyn, dessen Familienaufstellungs-Workshops wohlverdient an Zugkraft gewinnen, um mit ihm über Angst zu sprechen.* Er zog einige Techniken aus seinem Beutel voller evidenzbasierter Behandlungsverfahren hervor, wie etwa EMDR (Eye Movement Rapid Desensitization, »Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegung«); EFT (Emotional Freedom Technique, »Technik der Emotionalen Freiheit«) und SE (Somatic Experiencing). Weiter unten findest du vier Techniken aus diesen Verfahren.

BEVOR DU DICH JEDOCH in diese kurzen praktischen Übungen vertiefst, hier noch ein wichtiger Rat: Verwechsle den Anfang nicht mit dem Ende. Wenn deine Angst auf einer Skala von null bis zehn beispielsweise bei acht oder neun liegt, können diese Techniken sie auf ein Niveau von fünf oder sechs senken. Dennoch sind sie nicht als schnelle Lösung gedacht, sondern eher als therapeutisches Mittel, um tiefer zu gehen. Anders gesagt: Wenn deine Angst bei acht liegt, bist du nicht wirklich in der Lage, dich auf andere Verfahren einzulassen, um Einsicht und Inspiration zu gewinnen. In dem Vier-Stufen-Modell, das ich in Kapitel drei vorgestellt habe – innehalten, entschmelzen bzw. die Identifikation auflösen, neugierig werden, deinen inneren Dialog umstellen –, entsprechen diese Praktiken, gegen Ängste anzugehen, dem Schritt »innehalten«. Erst wenn deine Angst auf etwa fünf auf der Skala gesunken ist, werden dir die folgenden Schritte zugänglich. Wie NICK sagt: »Für mich endet es nicht mit der Übung zur Unterbrechung der Angst. Das ist eigentlich erst der Anfang. Denn nun, da du etwas präsenter bist – was jetzt?«

UNTERBRECHEN DURCH BEWEGUNG VON EINER SEITE ZUR ANDEREN

1.Nimm einen Gegenstand in die rechte Hand, irgendetwas, das groß und leicht genug ist, um es in einer Hand zu halten. Oder stell dir einfach vor, dass du einen Gegenstand in der rechten Hand hältst.

2.Schau geradeaus. Halte deinen Blick die ganze Zeit auf diese Weise nach vorn gerichtet; du brauchst allerdings nicht zu streng dabei zu sein.

3.Halte den Gegenstand in der rechten Hand und mit entspannten Armen so, dass er sich unten in deinem peripheren Sichtfeld befindet, und bewege dann deine rechte Hand so weit wie möglich nach rechts, wo du ihn eben noch sehen kannst.

4.Bring deine rechte Hand zurück in die Mitte, gib das Objekt an deine linke Hand weiter und bewege dann deine linke Hand so weit wie möglich nach links, wo du es noch sehen kannst.

5.Bring deine Hand zurück in die Mitte, gib das Objekt an die andere Hand weiter und wiederhole das Ganze.

6.Mach so lange weiter wie nötig.

UNTERBRECHEN DURCH PERIPHERES SEHEN

1.Wähle etwas dir gegenüber aus, das du betrachten möchtest, zum Beispiel einen bestimmten Punkt an der Wand.

2.Mach, ohne deine Augen zu bewegen, eine Bestandsaufnahme all dessen, was du in deiner Peripherie sehen kannst. Nimm wahr, was sich auf der linken Seite deines peripheren Sichtfeldes befindet. Nimm wahr, was sich auf der rechten Seite befindet. Nimm wahr, was oben ist. Und was unten ist. Nimm wahr, welche Farben du erkennst, und benenne sie innerlich, zum Beispiel »blau«, »grün« und so weiter.

3.Mach weiter, bis sich deine Angst verringert.

4.Atmen kann nicht schaden.

UNTERBRECHEN DURCH DIE EFT-KLOPFMETHODE

Klopfe mit Zeige- und Mittelfinger sanft, zügig (aber nicht gehetzt oder zu stark) und rhythmisch jeweils zwischen fünf und zwanzig Sekunden auf folgende Stellen, eine nach der anderen und in dieser Reihenfolge:

1.Das dritte Auge

2.Unter einem Auge

3.Die Schläfe auf derselben Seite

4.Die Oberlippe unter der Nase

5.Die Brust mit der Handfläche

6.Umgreife dann mit der einen Hand das Handgelenk der anderen und atme tief ein und aus.

UNTERBRECHEN
MIT DER VU-AH-METHODE

1.Atme tief in den Bauch hinein.

2.Sag beim Ausatmen: »Vuuuuuuu.«

3.Atme tief ein.

4.Sag beim Ausatmen: »Ahhhhhhhhh.«

5.Wiederhole das drei bis fünf Minuten.

*siehe nicknwerber.com

Eine neue Checkliste für Depressionen: (Über-)Lebenshilfen nacheinander vorgestellt

WENN ES DIR MISERABEL GEHT und deine Gedanken sich auf das Schlimmste richten, lass uns ein paar Dinge überprüfen, bevor du in blanke Verzweiflung verfällst. Vorab: Ich erkenne an, dass es dir gerade jetzt oder im weiteren Verlauf vielleicht sinnlos erscheint, dir das durchzulesen. Lass mich dir ein Bild vorschlagen, das ich hilfreich finde.

Stell dir einmal vor, du sitzt im Kino und siehst einen Bekannten drei Plätze entfernt von dir sitzen. Der Film hat noch nicht angefangen und du willst ihn begrüßen. Dazu musst du an den drei Personen, die zwischen euch sitzen, vorbeischauen, um deinen Bekannten direkt anzuschauen und seine Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Du könntest sogar »Hey« sagen und versuchen, deine Stimme an den drei Personen vorbei weiter vordringen zu lassen, damit dein Freund dich besonders gut hört. Tu das bitte einmal mit deinen Gefühlen und Gedanken, während du dies hier durchgehst. Deine Depressionen sind die drei Personen, die zwischen dir und der Person sitzen, der du Hallo sagen willst. Schau an diesen inneren Stimmen vorbei, und konzentriere dich stattdessen auf die folgenden Fragen und Vorstellungen.

1.PRÜFE, OB DU TATSÄCHLICH WILLST, DASS ES DIR BESSER GEHT.

Manchmal meinen wir nur, wir wollten uns besser fühlen, aber in Wirklichkeit wollen wir nur, dass wir uns besser fühlen wollen. Wir können manchmal erstaunlich am Leiden hängen. Unsere psychische Erschöpfung ist dann widersprüchlich, paradox. Finde also ganz klar heraus, ob du dich wirklich besser fühlen willst. Und wenn das allem Anschein nach nicht der Fall ist – kannst du dann Neugierde entwickeln in Bezug darauf, warum nicht? Vielleicht kommt dir die Tatsache, dass du dich miserabel fühlst, auf eine Weise zugute, die du dir selbst noch nicht eingestanden hast. Bei mir war es auf vielen Etappen meines Weges so.

2.GEH NACH DRAUSSEN.

Wenn nach draußen zu gehen deinem Empfinden nach zu viel für dich ist, betrachte dieses Gefühl als eine unbewiesene Behauptung – eine Hypothese. Geh fünf Minuten nach draußen, teste deine Hypothese und bestätige, ob sie wahr ist oder nicht. Ich habe gelernt, die Kraft eines Szenenwechsels nie zu unterschätzen – die Landschaft, die frische Luft und (vor allem) den Blick in den Himmel.

3.MÖCHTE JEMAND WASSER?

Manchmal frage ich mich, wie meine Erfahrungen mit Kindheitsdepressionen und -traumata ausgesehen hätten, wenn ich damals immer genug getrunken hätte. Schon allein Dehydrierung kann bewirken, dass du dich elend fühlst – sie kann dir Kopfschmerzen bereiten, dich in Hoffnungslosigkeit verfallen lassen, dafür sorgen, dass du leblos, energielos und gereizt bist. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen der Gedanke, täglich acht große Gläser Wasser zu trinken, mir wie eine kaum zu bewältigende lästige Pflicht erschien. Du brauchst jedoch nichts weiter zu tun, als jetzt mit einem Glas zu beginnen. (Und dann machst du weiter.)

4.DENKST DU AUCH DARAN, SPASS ZU HABEN?

Spielen ist das Gegenteil von Angst. Es ist das Gegenteil von Hoffnungslosigkeit. Spieltherapie für Erwachsene – ja, das gibt‘s.7 Lass dich wieder in die Kindheit zurückfallen und tu etwas, was dir damals Spaß gemacht hat. Solo-Tanzpartys in der Küche, ausgeflippte Luftgitarren-Performances vor dem Spiegel und unausstehlich lautes (und falsches) Mitsingen sind ausdrücklich erwünscht.

5.ISS GUT.

In klaren Worten: Die Entscheidung für einen Salat statt eines Sandwichs kann den Unterschied zwischen einem beschissenen und einem guten Tag ausmachen. Es ist mir egal, ob du den Salat in Ranch-Dressing ertränken musst, Hauptsache, du bringst etwas Brokkoli und Salat in dich hinein.

6.ATME.

Wie können wir uns besser fühlen, wenn wir die Basis unseres Daseins vernachlässigen? Dein Atem gehört zu den wirkungsvollsten Mitteln, die dir zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, deinen geistig-emotionalen Zustand zu beeinflussen. Die Übung »Sich erden: der Atemkörper« auf Seite 109 eignet sich hervorragend, um damit zu beginnen. Lass dir damit über mehrere Tage hinweg zehn Minuten Zeit, bevor du versuchst zu beurteilen, ob sie funktioniert.

7.RUF EINE/N FREUND*IN AN.

Bring den Golden Girls-Titelsong zum Einsatz. Deine Gedanken aus dem Kopf und in die Welt zu bringen, indem du sie laut aussprichst (oder sie sogar per SMS sendest), sodass andere sie empfangen, gehört zu den großartigsten Formen der Erleichterung überhaupt. Du meinst, du hättest keine Freunde oder sonstige Menschen, mit denen du über deine Depressionen sprechen möchtest? Informationen zu Beratung und Anlaufstellen findest du zum Beispiel unter www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/krisenotfall/akutepsychische-krise/.

8.SEI EINFACH MAL FREUNDLICH ZU ANDEREN.

Ich sage das ohne den Hauch einer Verurteilung oder Beschuldigung: Ein großer Teil der Depressionen besteht in der Konzentration auf sich selbst. Unsere Gedanken drehen sich darum, was mit uns los ist, wie schrecklich das alles für uns ist und wie unlösbar unsere Probleme sind. Diesen Kreislauf kannst du durchbrechen, indem du an andere denkst. Die Meditation der liebenden Güte zum Beispiel konzentriert sich darauf, anderen Gedanken des Wohlergehens zu senden, und es hat sich gezeigt, dass sie Depressionen und Ängste verringert und heitere Gefühle wie auch das Gefühl, Sinn im Leben zu finden, verstärkt. Noch besser sind ehrenamtliche Aktivitäten – Angebote findest du unter anderem im Internet.

9.BEWEG DICH.

Was zunächst wie ein Ding der Unmöglichkeit wirkt, ist oft genau das, was wir brauchen. Das gilt auch für Sport und Bewegung bei Depressionen. Leg einfach los, mit welcher Sportart auch immer. Idealerweise nimmst du an einem Kurs teil. Ich persönlich liebe auch die HASfit-Videos von Coach Kozak auf YouTube, weil sie kurz und sehr positiv sind. Wenn du die Beine nicht gut bewegen kannst, gibt es online Kardio-Videos mit Übungen im Sitzen, nur mit Armbewegungen, und ebenso gibt es Videos, in denen nur die Beine zum Einsatz kommen. Wenn du dich bewegen kannst, dann kannst du auch deine Herzfrequenz erhöhen, ein bisschen schwitzen und deinen Serotoninspiegel erhöhen. Natürlich solltest du dich vorher ärztlich untersuchen lassen und die entsprechenden Empfehlungen befolgen.

*eine (vor allem antifaschistische) Jugendkultur, basierend auf einem Musikstil und einer Subkultur ähnlich dem Hardcore-Punk (Anm. d. Lekt.)

*Atemübungen aus dem Yoga (Anm. d. Lekt.)